„Würdest du deinem Partner etwas vorlesen?“ war damals eine der ersten Fragen, die ich in meinem Online-Dating-Profil beantworten sollte, damit man(n) mich und meine Interessen besser einschätzen könnte. Ich schrieb: „Unbedingt! Mit verschiedenen Stimmen und wirkungsvollen Pausen an den dramatischen Stellen. Hey, ich hab mal nen Vorlese-Wettbewerb gewonnen…“ Schon in meiner aktiven Dating-Zeit merkte ich, dass meine Begeisterung fürs (Vor-)Lesen eher eine Ausnahme ist – zumindest wenn man die Antworten auf diese Frage bei den anderen Profilen als Referenz annimmt. Dabei ist doch gerade das Vorlesen eine der schönsten Tätigkeiten, die man gemeinsam machen kann. Geschichten erleben, Sprache neu entdecken, anschließend die Eindrücke besprechen – ich liebe es! Und übrigens: Das ist nicht nur was für Kinder.

„Vorlesen ist nichts für Viertklässler, die müssen jetzt selber lesen!“ Letztens auf dem Elternabend erzählten uns die Deutschlehrerinnen der 4. Klassen, man habe die Auswertung der VERA 3 Tests aus dem vergangenen Jahr zum Anlass genommen, mehr Lesestunden in den Stundenplan zu integrieren, denn es sei schlecht bestellt um die Lese-Fähigkeiten der Schüler und Schülerinnen. Auch die Eltern sollten mehr darauf achten, dass ihre Kinder lesen – auch wenn man ja keine gemeinsame Lesezeit mehr hätte in diesem Alter, denn Viertklässlern müsse man nicht mehr vorlesen. Lauter Protest kam übrigens von Junior, als ich ihm das erzählte – mal im Ernst, wer denkt sich denn so einen Mist aus?

Gemeinsam lesen

Junior und ich lesen immer noch (fast) jeden Tag gemeinsam. Abends, bevor er schlafen geht. Das liegt nicht daran, dass er nicht selbst lesen könnte – er liest jeden Tag, oft schon morgens, vor dem Frühstück. Sein aktuelles Projekt ist Tad Williams‘ „Der Drachenbeinthron“ und die gut 800 Seiten sind keine Herausforderung für ihn. Dieses Lesen ist aber etwas ganz anderes als unsere gemeinsame Zeit, wenn ich vorlese.

Denn wie gemütlich ist es doch, sich unter die Decke zu kuscheln, einer vertrauten Stimme zu lauschen, eine Geschichte Stück für Stück zu hören, zu erfahren, zu besprechen. Derzeit lesen wir die 5-Freunde-Reihe von Enid Blyton, denn für mich ist es einfach toll, noch einmal neu die Klassiker zu lesen, die ich als Kind schon verschlungen habe. Als Junior kleiner war, war das schon so mit den Büchern von Michael Ende, Astrid Lindgren, Mark Twain, Cornelia Funke, Erich Kästner, Paul Maar, Kenneth Grahame, Colin Dann und vielen anderen – die aktuelleren Geschichten wie etwa die Buchreihe „Die Schule der magischen Tiere“ von Margit Auer waren für mich gar nicht so spannend, aber auch die haben wir natürlich gelesen.

Das Vorlesen ist ein Erlebnis – und zwar für uns beide. Ich lese die meisten Geschichten nicht nur vor, sondern sie gestalten sich beim Lesen. Ich kann mit verschiedenen Stimmen und Lautstärken variieren, spannende Stellen noch mehr betonen, Pausen gezielt einsetzen, mit der Stimme spielen – an guten Tagen entwickle ich richtig Ehrgeiz dabei. Und Junior liebt es ebenso, er besteht abends auf unsere Lesezeit – es ist einfach nicht vergleichbar mit dem selber lesen. Wenn mein Freund mal abends bei uns ist, hört er natürlich auch zu – obwohl er ja immer mit großen Lücken in der Geschichte klarkommen muss, weil er so viele Abende eben nicht da ist.

Vorlesen als Ritual – auch im Erwachsenenleben

Mein erster Freund Stefan und ich hatten beide eine besondere Verbindung zum Lesen. Wir lasen zum Beispiel morgens gemeinsam die Zeitung, wenn ich bei ihm war. Die haben wir uns zwar nicht vorgelesen, aber geteilt, und manchmal hinterher wichtige Infos und Nachrichten besprochen.

Nach einiger Zeit entdeckten wir auch das gemeinsame Lesen am Abend – und das war ein Vorlesen. Wir haben uns abwechselnd gegenseitig vorgelesen und ich habe das sehr geliebt. Mal haben wir nach einem Kapitel gewechselt, mal erst nach mehreren, je nachdem, wonach uns war.

Die Bücher waren meist kürzere Romane, auch mal Jugendromane, manchmal einfach etwas aus den großen Kisten mit Mängelexemplaren in den Buchhandlungen oder in Supermärkten. Wir fanden nicht alles gut, aber auch das war für uns Anlass, darüber zu sprechen, zu diskutieren und die Auswahl unserer Bücher neu zu durchdenken.

Jetzt könnten manche anmerken, man könne doch auch gemeinsam Filme schauen und darüber diskutieren. Klar kann man das – es ist aber nicht das gleiche wie eine Geschichte Stück für Stück mit der eigenen Stimme zu ertasten oder ertasten zu lassen. Vielleicht probierst du es mal aus, es hat wirklich seinen ganz eigenen Zauber.

Das Buch als Angebot zum Gespräch

Ich verliebe mich gerade in Teju Coles Roman „Open City“, weil ich so viele kleine, inspirierende Gedanken darin finde, dass ich glaube, ich müsse ein Stichwortverzeichnis anfertigen, um die schönen Passagen später besser wiederfinden zu können. Und auch über das Lesen ist eine interessante Textstelle drin – schon ganz am Anfang. Da beschreibt der Erzähler seine Beziehung zum Lesen und zu Büchern – und zum lauten Sprechen:

„Es ist tatsächlich eigenartig, das geht mir immer wieder durch den Kopf, dass wir die Worte verstehen können, ohne sie auszusprechen. Augustinus glaubte, Bedeutung und Innenleben der Sätze ließen sich durch laute Aussprache am besten erfahren, aber seitdem hat sich unsere Vorstellung vom Lesen sehr verändert. Man hat uns gründlich gelehrt, dass das Gespräch eines Menschen mit sich selbst als Anzeichen von Exzentrik oder Wahnsinn zu werten sei; wir sind nicht mehr gewöhnt, unsere eigene Stimme zu hören, außer in einer Konversation oder in der sicheren Umgebung einer schreienden Volksmenge. Dabei ist ein Buch ein Angebot zum Gespräch: Einer spricht mit dem anderen, und der hörbare Klang ist oder sollte natürlicher Bestandteil dieses Austauschs sein. Also las ich mir selbst laut vor, ich war mein eigener Zuhörer und ich lieh den Worten eines anderen meine Stimme.“

Teju Cole: Open City. 2. Aufl., Suhrkamp 2021.

Ich weiß nicht, wie oft ich den Satz schon gesagt habe: Jeder Text ist eine Einladung zum Gespräch. Es ist nicht bloß Senden, sondern ein Anlass, eine Unterhaltung zu führen. Ich liebe den Gedanken von Cole, dass der Klang der Stimme dazu beiträgt, dieses Gespräch zu führen. Dass wir den Worten von anderen unsere Stimme leihen und sie so hörbar machen, erfahrbar auf einer anderen Ebene.

Ich glaube, dass wir mehr Vorlesen sollten. Unseren Kindern (auch den größeren), unseren Partnern, Familien, Freunden, Eltern vielleicht. Und uns selbst. Um die Worte durch unsere Stimmen am besten erfahren zu können.

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3 Antworten

  1. Hi Anna, wie schön. Ich schrieb ja schon an anderer Stelle, dass ich einer Freundin auf Reisen vorlas und sie mir. Das waren wunderschöne Abende.

    Was das Hören der eigenen Stimme betrifft: Man sagt, dass fast alle Menschen laute Selbstgespräche führen, nur traut sich keiner, das zuzugeben. Ich rede auch mit mir. Das hilft mir, mich zu strukturieren. Meist lese ich mir meine Beiträge laut vor, bevor ich das Köpfchen „Veröffentlichen“ drücke. Hin und wieder entdecke ich dabei einen Stolperstein im Lesefluss. (Hab rasch nach nem Artikel zu Selbstgesprächen geschaut und verlink dir den mal. https://www.galileo.tv/gesundheit/selbstgespraeche-fuehren-normal-autokommunikation/

    Ja, es ist völliger Quatsch, dass Viertklässler nur noch selbst lesen sollen. Wenn sie keine Lust zum Lesen haben, dann liegt es oft an den Texten, die ihnen in der ach so heilen (und langweiligen) Welt der Schulbücher angeboten werden. Texte, die mit ihrem Leben nix zu tun haben.

    Unterrichtende selbst an der Oberstufe wurden schon vor Jahren angeregt, wieder mehr vorzulesen und es dabei bewenden zu lassen und nicht jede Geschichte durch Analysen platt zu machen. Das Bedürfnis Geschichten hören zu wollen, scheint mir im Menschen angelegt. Wie sonst lässt sich der Erfolg von Hörbüchern begründen? Da wird doch offenbar ein zutiefst sitzendes Bedürfnis befriedigt.

    Wie gern bin ich in D zu Lesungen gegangen. Ich erinnere mich an eine von Leon de Winter. Nachdem ich ihn seine Texte lesen hörte, hatte sich mein Verständnis seiner Bücher aber sowas von geändert, war viel heiterer geworden, obwohl die Worte ja die gleichen waren.

    Ich finde: Der Mensch ist ein Homo-Geschichtikus.

    Liebe Grüße, Ramona

    • Hallo Ramona! Ein Homo Geschichtikus – das gefällt mir gut. Ja, das gegenseitige Vorlesen durfte ich jetzt kürzlich erst wieder erfahren und das war wunderschön. Ich glaube sowieso, dass Menschen, die lesen, verbundener sind. Meine Mutter meinte schon immer „Es gibt Menschen, die lesen, und solche, die nicht lesen. Wenn Extreme einander begegnen ist die Verständigung deutlich erschwert.“

      Und zu den Selbstgesprächen: Das sehe ich ganz genauso – ich habe auch schon öfter im Podcast darüber gesprochen. Für mich sind diese Gespräche mit mir selbst wegweisend für Entscheidungen, als Einstiege in wichtige Gespräche, um mehr Klarheit in meine Gedanken zu bringen. Meine Stimme, das Tempo, die Lautstärke… all das verstärkt nur den Effekt. Wie Zauberei. Und ich gebe das gern zu: Ich bin einer meiner besten Gesprächspartner 🙂

      Autorenlesungen sind wirklich was Feines, vielleicht sollte ich auch wieder öfter gehen – danke für den Impuls!

      Liebe Grüße
      Anna

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