Manchmal, in Erzählungen oder in Texten, ganz egal, ist nicht das Erzählte die Information, die hängenbleibt, sondern das, was nicht erzählt wird. Dieser Gedanke ist nicht neu, ich habe darüber schon ein paar Mal geschrieben. Aber immer nur kurz, in Tweet-Format oder ein bisschen länger für Social Media, nichts Beständiges jedenfalls (hier zum Beispiel ein kurzer Impuls auf Mastodon). Und als ich dann am Wochenende über diese – zugegebenermaßen sehr kurze Textpassage in Teju Coles „Open City“ stolperte, kam der Gedanke wieder auf, erweiterte sich, waberte durch meinen Kopf, mehrere Tage lang.

In Coles Roman beschreibt der Erzähler die Gespräche mit seinem früheren Lehrer Prof. Saito:

„Rückblickend erscheint es mir so, dass bei diesen Gesprächen hauptsächlich er redete. Sie waren eine Unterweisung in der Kunst des Zuhörens, und sie lehrten mich, aus dem Ungesagten die Umrisse einer Geschichte zu skizzieren.“

Teju Cole: Open City. 2. Aufl., Suhrkamp 2021.

Eine Geschichte aus dem Ungesagten formen. Schön, oder? Aber was heißt das denn eigentlich?

Wenn wir sehr detailliert beschreiben, dann können Zuhörer oder Leserinnen sich ein recht genaues Bild davon machen, wie wir die Szene gestalten. Vielleicht beschreiben wir genau, wie der Raum gestaltet ist, der Rahmen für die Geschichte. Oder aber wir beschreiben sehr detailliert die Intentionen der handelnden Personen, das Verhalten, die (körperlichen) Reaktionen auf die Geschehnisse, die Emotionen. Dann können die Rezipienten nachvollziehen, was wir gerade berichten, sie sind dann nah dran an unserem Standpunkt, an dem, was uns an der Geschichte wichtig ist.

Die Leerstellen aber, das Ungesagte, das können sie mit ihren eigenen Bildern füllen. Und hier liegt ein besonderer Zauber, denn so entsteht etwas, das vom Sender, vom Erzählenden, nicht vorhergesagt werden kann. Wir füllen die Lücken in der Geschichte mit unserer Interpretation, unseren Bedeutungen, unseren Bildern. Weil wir sowieso eine andere Vorstellung der Bedeutung von Wörtern, andere Referenzerlebnisse, andere Verknüpfungen zu den Begriffen in unserem mentalen Lexikon gespeichert haben.

Zwischen den Zeilen lesen?

Oft beschweren sich Menschen, wenn andere „zwischen den Zeilen lesen“, wenn sie interpretieren, was vielleicht gar nicht da steht. Dann kommt gern ein Vorwurf: „Das habe ich so doch nicht geschrieben!“ Und klar, man kann immer auch etwas (absichtlich) falsch verstehen, Dinge aus dem Kontext reißen, übereifrig Texte oder Aussagen mit bestimmten Assoziationen verknüpfen, die erst einmal gar nicht gesagt oder geschrieben wurden. So ist er aber gar nicht gemeint, mein Hinweis auf die Leerstellen.

Extrembeispiele für Ungesagtes in Geschichten findet sich zum Beispiel in der Flash Fiction. Durch die vorgegebene Kürze dieser Texte sind Autoren oftmals gezwungen, lediglich Andeutungen zu machen über bestimmte Handlungen, Intentionen oder Akteure. Die Geschichte entwickelt sich eher schlaglichtartig, es ist keine Zeit für lange Erklärungen.

Das vielleicht bekannteste Beispiel, das auch gern mal genutzt wird, wenn es um die Wirkung von Storytelling geht, ist eine Sechs-Wort-Geschichte, die in vielen Artikeln Hemingway zugeschrieben wird, aber vermutlich schon älter ist:

„For sale: baby shoes, never worn“

Würden wir hier nur dem folgen, was wirklich da steht, hätten wir keine Ahnung, was die Geschichte uns sagen will. Die Story entsteht erst, indem wir mit unserem Weltwissen eine Verknüpfung zwischen den Satzteilen herstellen und die Leerstellen füllen.

Noch einmal zurück zum Zuhören

Cole lässt seinen Erzähler denken, die Gespräche mit dem Professor seien eine „Unterweisung in der Kunst des Zuhörens“. Und ich glaube hier liegt der entscheidende Punkt zwischen „Das habe ich so doch gar nicht gesagt“ und „mich berührt die Story“.

Denn wenn wir genau hinhören und davon ausgehen, dass der Erzähler oder die Autorin uns etwas mitteilen wollen, das für uns wertvoll und wichtig ist, dann kommen wir vielleicht dahinter, welche wichtigen Informationen in den Worten versteckt sind.

Zuhören als Kunst, das ist für mich die zentrale Erkenntnis. Etwas wirklich verstehen wollen, sich darauf einlassen, mitzudenken und darauf zu achten, was eigentlich kommuniziert werden soll – das macht doch jedes Gespräch (ob nun mündlich oder schriftlich) besser.

Am Wochenende habe ich Gespräche geführt, in denen ich kaum gesprochen habe und auch solche, in denen ich Raum zum Erzählen hatte. Und ich war wirklich gesegnet mit Gesprächspartnern, die aufmerksam waren und bei denen ich das Gefühl hatte, sie wollten wirklich gern wissen, was ich zu berichten habe.

Die Leerstellen werden entweder erfragt, wenn sie Verständnisprobleme erschaffen, oder aber sie bleiben im Raum, als Teil der Story, als Teil einer Welt, die zwischen Sender und Empfänger entstanden ist.

Und wenn wir Glück haben, schaffen die Bilder, mit denen die Leerstellen gefüllt werden, wieder neue Anreize, miteinander zu reden. Und uns gegenseitig aufmerksam zuzuhören.

Keine Kommentare bislang

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert