Wie viele Leute waren denn gestern bei deiner Blognacht? Wie viele Online-Workshops hast du verkauft? Wie viele Likes und Kommentare hast du für den Teaser bekommen? Wie viele Neuanmeldungen hast du für den Newsletter? Hast du deinen Umsatz in diesem Monat wieder erhöht? Ist dir das Hühnchen wieder so perfekt gelungen? Welche Note hast du in der Klassenarbeit abgeliefert? Wie toll war dein Date, dein Urlaub, dein Abend, dein Wochenende? Ich weiß ja, woher diese Fragen kommen und ich stelle sie manchmal auch selbst, aber ich bin so müde, immer wieder auf Kennzahlen zu schauen und darauf, was sich alles steigern lässt.
Es ist in allen Lebensbereichen. Schule, Studium, Beruf sowieso. Ob nun Noten, Gehalt oder Gewinne verglichen werden, ist eigentlich egal. Im Privatleben aber auch: Selbst Junior prahlt mit seinem großen Freundeskreis, dass ihn alle gut leiden können. Ich finde das gut, denn es macht ihm sein Leben etwas leichter, aber gleichzeitig versuche ich ihm zu vermitteln, dass es nicht auf die Menge der Freunde ankommt. Mal ganz davon angesehen, dass er meiner Meinung nach noch gar nicht verstanden hat, dass es einen Unterschied gibt zwischen Beliebtheit und Freundschaft.
Und ich glaub, es kommt auch nicht darauf an, was besonders gut aussieht: Das schickste Kleid beim Abiball, der Traumurlaub oder die Traumhochzeit, die krasseste Party, der beste Sex – natürlich immer mit Traum-Orgasmus. Nur dann haben wir auch etwas, das wir auf Insta posten können. Aber das sind eben die Geschichten, die sich leicht liken lassen. Ein Glückwunsch-Kommentar tut nicht weh, man muss nicht groß darüber nachdenken.
Und wenn die eigenen Erfolge gerade auf sich warten lassen, dann sprechen wir eben über die Erfolge unserer Lieben, denn daran haben wir ja auch Anteil. Die Auszeichnung der besseren Hälfte zum Beispiel („Natürlich habe ich ihm/ihr immer den Raum gelassen, sich zu verwirklichen!“), der Schulabschluss vom Nachwuchs („Ich bin so stolz!“) oder auch die Paarleistung („25 Jahre durch dick und dünn!“).
Performance-abhängig
Nichts gegen diese Erfolge, ich gönne allen diese großartigen Erlebnisse. Feiert sie! Laut und glücklich und überschwänglich. Aber ist das wirklich das, was wir der ganzen Welt erzählen wollen? Ist es eine Frage der Performance, ob wir überhaupt feiern? Müssen wir schweigen, wenn wir nicht die gewünschte Performance abgeliefert haben?
Wir wollen alles so gut wie möglich machen, klar, ich auch. Perfektionismus kann ich, obwohl ich genau weiß, wie bescheuert das ist. Und klar, es ist nicht so beeindruckend, mit möglichst wenig Aufwand das beste Ergebnis zu erzielen. Oder doch?
Ich verstehe Jeden und Jede, der oder die von großen Erfolgen erzählt. Klingt ja auch gut. Manchmal geht dabei aber unter: Man kann Geschichten ja immer aus verschiedenen Richtungen und mit anderen Schwerpunkten erzählen, daher lässt sich aus jedem Thema eine Heldenreise basteln. Das ist ja auch das, was ich anderen beibringe.
Performance-Druck
Was mich stört, ist der Druck, der durch diesen Performance-Blick entsteht – schon im Erleben oder im Alltag, also bevor wir darüber nachdenken, wie wir die Geschichte erzählen könnten. Leben ist ja nicht perfekt und es ist auch nicht immer hübsch (außer auf Insta).
Wenn mir zum Beispiel ein entfernter Bekannter erzählt, er müsse beim Dating performen, der Druck sei so groß, alles richtig zu machen, bloß keine Enttäuschungen – dann empfinde ich das als überhöht, viel zu verbissen, anstrengend. Wer will denn so neue Menschen kennenlernen?
Und weiten wir den Blick, ohne auf die Performance und die Zahlen zu schauen… Ist dann nicht ein Monat, in dem ich gut über die Runden komme, auch ein Erfolg? Ein schlichtes Abendessen, das allen schmeckt? Ein Date, ein Urlaub, ein Abend, ein Wochenende, wo ich einfach eine gute Zeit hatte? Vielleicht sogar ohne Foto-Dokumentation?
Zauberhafte Momente
Gestern, bei der Blognacht, waren „nur“ etwa 10 Leute da. Kein volles Haus, kein großer Run auf meinen offenen Schreib-Raum. Und das, obwohl er doch kostenlos ist! Nicht mal kostenlos wollen die Menschen dieses Angebot nutzen, also kann es doch weg, oder? Lohnt sich nicht, ist überflüssig, nur Aufwand, rentiert sich nicht.
Die Wahrheit aber ist: Selbst wenn nur eine Bloggerin oder ein Schreiber auftauchen würde, wäre es gut. Denn es ist auch mein Raum zum Schreiben. Ich produziere meistens einen eigenen Text, das würde ich doch sowieso tun. Auch für mich ist es Verbindlichkeit, mich einmal alle 4 Wochen einem offenen Thema zu widmen. Und letztlich mache ich es vor allem wegen der kleinen, zauberhaften Momente.
Wenn ich höre, wie wohltuend dieser kleine Schreibraum ist, wie leicht das Schreiben fällt, wie schnell sich ein kleiner Text produzieren lässt. Wenn sich Bedenken auflösen, Vorurteile über das Bloggen abgebaut werden, wenn ich kleine Gespräche zwischendurch führen kann über das Leben und das Schreiben.
So wie gestern. Wir haben „nur“ bis etwa 22:40 Uhr geschrieben, viele waren müde. Und nicht alle sind fertig geworden mit dem angefangenen Text, ich auch nicht. Aber es ergab sich ein kleines Gespräch darüber, wie wir über unser Leben und Wirken denken, wie das Bloggen Leben und Alltag verändern kann und wie es Menschen zusammenbringt – online wie offline. Ein Gespräch über Blockaden, das Sterben, über Verlust, über Nachdenklichkeit und den November. All das ist so viel inspirierender als ein Post auf LinkedIn, der 100.000 Menschen erreicht und die den Inhalt nach 5 Minuten schon wieder vergessen haben. Es wirkt nach.
Wir geben etwas in die Welt und es kommt etwas zurück. Dafür braucht es keine Performance, nur Aufmerksamkeit, Neugier und Haltung. Danke an alle, die mein Leben reicher machen. Ganz ohne Vergleichszahlen.
Du kannst mir übrigens einen Kaffee-Regen schenken, wenn dir danach ist. Weil Geben und Nehmen zusammengehören. Meine Kaffeekasse findest du hier.
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