Wir essen einen Kräuterquark. Ungefähr 40 % von dem, was du schmeckst, schmecke ich noch. Plus die Prozente, die mein Gehirn mir aus meiner Erinnerung dazuerfindet, weil es mal eine Zeit gab, als ich noch alle Kräuter anhand des Geschmacks erkennen konnte. Beim Geruch ist es natürlich auch so. Du riechst das frisch gebackene Brot, ich nur 40 % davon. Und einen Teil vielleicht nur, weil ich weiß, dass es gerade nach Brot riecht.

Gestern wurde mir dieser Umstand wieder bewusst, weil beim Elternabend angesprochen wurde, dass einige Schüler*innen aus Juniors Klasse jetzt aus dem mein-Schweiß-stinkt-nicht-Alter herausgewachsen sind. Daher sollen wir unsere lieben Kleinen dazu ermutigen, sich häufiger zu waschen. Und ich fragte mich sofort: Stinkt mein Kind? Ich denke nicht, dass er gemeint war, aber hey – wer weiß? Denn auch davon rieche ich nur 40 %. Ungefähr.

Überlebt

Als ich knapp 20 Jahre alt war, bin ich auf den Kopf gefallen. Das ist vielleicht etwas flapsig formuliert, aber letztlich war es das, was passiert ist. Rückwärts bin ich eine Treppe heruntergefallen und zwar auf den Hinterkopf (und den Rücken natürlich auch). Halswirbel angebrochen, Gehirnblutungen, richtig üble Sache.

„Wir wissen nicht, warum Sie noch leben“, sagte mir der Arzt auf der Neurologie damals, als ich 2 Wochen nach diesem wirklich schweren Unfall aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Ja, nach 2 Wochen. Denn die akute Gefahr war vorbei, jetzt ging es nur noch um die möglichen Spätfolgen.

Also noch drei Wochen Reha. Konzentrations-Tests, Wortschatz-, Logik- und Aufmerksamkeits-Trainings, Fahren im Fahrsimulator, um Reaktionszeiten und auch Motorik zu testen. Es war alles gut. Ich sei „dem Anforderungsprofil meines Studiums wieder gewachsen“, stand im Abschlussbericht.

Verluste

Die Sache mit dem Geruch und Geschmack fiel mir zuerst in der Reha auf. Das Eis schmeckte nicht wie es sollte, Zigarettenrauch roch ganz fremd für mich (ja, ich hab damals noch geraucht). Zuhause dann Gerüche, die durcheinandergeraten waren. Mein Shampoo roch wie WC-Reiniger, Erdbeeren schmeckten wie Champignons. Alles war voller Fehlinformationen.

Heute bin ich froh, dass ich diese Verirrungen nicht mehr habe, es ist einfach nur vermindert. Man erklärte mir das so, dass da wohl bei dem Sturz Nerven kaputtgegangen und abgestorben seien. Die fehlen jetzt, um die Infos an mein Gehirn weiterzugeben. Bei einem Test ein paar Jahre später dann die Zahl: 40 %. Wenn ich mir das rechte Nasenloch zuhalte, kann ich nicht mal Essig riechen.

Riechen: Der unterschätzte Sinn

Die Sache mit dem Kräuterquark ist ja aber nur die eine Seite. Schöne Gerüche kann ich nur vermindert wahrnehmen, gefährliche aber auch. Ich rieche die verdorbene Milch nicht oder auch den Rauch, wenn es brennt. Ich rieche nicht die volle Windel, sondern muss nachschauen.

Und ich rieche auch mich selbst nur vermindert. Andere Menschen natürlich ebenso. Also: Es ist vielleicht ein Vorteil, wenn ich im Sommer Bus fahren muss und als kleiner Mensch neben der Achselhöhle von irgendeinem großen Menschen stehe. Aber insgesamt ist es nicht cool. Dieser Sinn wird wirklich unterschätzt. Und ja: Nicht mal die Hälfte von dem, was du wahrnimmst, rieche ich.

Was ist das Gute daran?

Diese Einschränkung erinnert mich täglich daran, was da passiert ist vor 17 Jahren. Und das ist definitiv gut so. Wie leichtsinnig ich damals war, wie viel Glück ich hatte und vor allem: Wie wenig ich darüber nachgedacht habe, was leben eigentlich bedeutet. All diese Dinge gehen mir durch den Kopf, wenn das Abendessen mir zwar schmeckt, ich aber bestimmte Gewürze darin gar nicht bemerke.

Oder wenn ich beim Kochen nach Augenmaß würze, dann probiere und im Zweifel besser weniger salze. Denn für mich müsste ich ja deutlich mehr dranmachen, um auf die 100 % zu kommen (was ich nie tue, auch nicht, wenn ich nur für mich koche). Man gewöhnt sich daran. Und ich glaube, mein Gehirn ergänzt fehlende Sinneseindrücke – zumindest manchmal.

Einschränkungen sind nicht immer sichtbar und schon gar nicht immer nachvollziehbar. Wir lernen, damit umzugehen und zu leben. Und meine Einschränkung ist vielleicht auch nicht so schlimm wie andere. Aber auch sie ist ein Verlust an Lebensqualität, den ich über andere Sinne ausgleichen muss. Das ist Arbeit und erfordert ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit.

Ich bin bis heute dankbar dafür, dass ich noch hier bin. Und dass mein Gehirn die Schäden so gut überstanden hat. Denn bis auf die 40 % habe ich keine Einschränkungen – zumindest nicht dass ich wüsste.

2 Antworten

  1. Liebe Anna,

    wir schauen den Menschen nur vor den Kopf. Ahnen oft nicht, was sie aushalten, durchmachen, erleben mussten. Und machen uns ein Bild oder packen sie in eine Schublade.
    Danke, für das Erzählen deiner Geschichte. Ich bin froh, dass du auf dieser Welt geblieben bist nach dem Sturz.

    Herzensgrüße.
    Angelika

    • Liebe Angelika,

      ja, das war auf jeden Fall ein Erlebnis, das mein Leben und Denken verändert hat. Das Leben kann echt schnell vorbeigehen. Ich glaub, gerade diese Geschichten lassen uns die Menschen hinter der Fassade ein bisschen besser greifen, das hatten wir ja damals auch bei deinen Texten erarbeitet. Was dir wichtig ist und warum, das verbindet. Daher fand ich auch die Story zu deinen ersten Nächten im Freiraum-Bus so genial. Deine Gefühle, deine Worte, deine Story. Es ist einfach echt.

      Schön dass du da bist und danke für deine Worte
      Anna

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