Meine Geschichte ist eine Story, die nicht gut zusammenzufassen ist. Um den Weg zu verstehen, den ich gegangen bin, muss man einige Dinge wissen, muss man Zusammenhänge kennen, muss man die Umstände durchblicken. Würde ich meine Geschichte erzählen, würde ich nichts auslassen, auch die harten Themen nicht. Aber was würde ich wirklich schreiben oder sagen? Welche Geschichte kommt dabei heraus? Lange habe ich geglaubt, meine Geschichte wäre festgeschrieben. Dass sie so erzählt werden müsse, wie sie nunmal war. Doch letztlich kann ich bestimmen, welche Perspektive, welche großen Themen und welche Erkenntnisse sich durch meine Story ziehen.

Was wir ja alle nicht wissen ist, wie unsere Geschichten enden. Daher gibt es nur die Frage, wie wir sie erzählen wollen. Ist es eine Komödie, eine Tragödie, eine Dokumentation? Wir können bestimmen, welche Ausschnitte wir wählen, ob wir von vorn nach hinten, von hinten nach vorn oder in Sprüngen erzählen. Welche Personen vorkommen, welche Rollen sie haben, welche Charaktereigenschaften wir betonen und welche Handlungen. Welche Episoden wir ausführlich erzählen, welche nur flüchtig, welche gar nicht. Wann wir schnell erzählen und wann langsam, ob und wie wir Spannung aufbauen oder ob wir nüchtern und faktisch berichten. Und vor allem: Welche Emotionen wir durchblicken lassen oder bewusst und klar benennen.

Ich habe lange das was-wäre-wenn-Spiel gespielt. Mir ausgemalt, wer ich sein könnte, wenn meine Geschichte anders verlaufen wäre. Was wäre, wenn meine Eltern sich geliebt hätten? Wenn sie zusammengeblieben wären? Was wäre, wenn meine Mutter ihren Abschluss an der Uni gemacht hätte? Wenn mein Vater in seinem Job als Lehrer geblieben wäre? Was wäre, wenn Alkohol in unserer Familie kein Thema gewesen wäre – oder nur ein Randthema? Wenn mein Vater nicht gestorben wäre?

Was wäre, wenn man mir nicht erzählt hätte, dass ich ein Talent für Sprache habe (und keins für Naturwissenschaften)? Und was wäre, wenn ich selbstbewusster gewesen wäre in einer ganz bestimmten Phase meines Lebens?

Ja, ich habe lange geglaubt, alles sei so gelaufen, wie es eben laufen musste. Und dass es in einer anderen Welt anders (besser!) gelaufen sein könnte. Dass es, wie in der Serie Fringe, eine Parallelwelt gibt, in der alles anders (besser!) ist. Dass es vielleicht auch eine Welt gibt, in der alles schlechter ist, habe ich unterschlagen.

Es ist nicht alles schwarz und weiß, es ist nicht, wie wir glauben, dass es ist. Es kommt immer auf die Erzählperspektive an – und auf viele andere Faktoren, die wir aber selbst bestimmen.

Wähle ich den passenden Ausschnitt, kann ich aus meinem Leben eine (langweilige) Rosamunde-Pilcher-Story machen. Oder einen Krimi. Oder ein Drama. Oder eine romantische Komödie, albern, übertrieben, amerikanisch. Oder ich wähle irgendein Oberthema und erzähle mein Leben ausschnittsweise an diesem roten Faden entlang. Es ist grundsätzlich alles möglich.

Meine Geschichte ist meine Geschichte. Welche Dinge ich mich selbst glauben lasse, im Rückblick, liegt in meiner Hand. Ob ich aktiv handle oder ein passiver Spielball des Schicksals bin, ist letztlich eine Frage der Erzählung. Ich kann sogar entscheiden, dass ich in meiner eigenen Geschichte nicht die Hauptfigur bin, und entgegen all der Meinungen von Selbstwirksamkeits-Profis und Selbstverantwortungs-Spezialisten gibt es gute Gründe dafür, auch so eine Version zu denken.

Und das ist der Punkt, den ich gern schon früher verstanden hätte. Leben ist nicht gerecht oder fair. Aber es gibt nicht eine Version, eine Story. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, sie zu erzählen. Auch oder gerade sich selbst gegenüber.

Dieser Text ist in der 43. Blognacht entstanden. Auch so etwas, das niemand planen kann, wie sich solche kleinen Ideen entwickeln und was sie bewirken. In einer Geschichte über die schreibende Anna dürfte die Blognacht jedenfalls nicht fehlen.

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