Ich bin 15, vielleicht 16, sitze im Bus, unterwegs in die Stadt, ein Fensterplatz. Ein Typ steigt ein, setzt sich neben mich, zu nah. Ich rutsche weiter weg, so weit, wie es geht. Er labert mich von der Seite an, wie selbstverständlich legt er seine Hand auf meinen Oberschenkel. Er rückt noch näher zu mir, setzt mir seinen Hut auf den Kopf. Ich schlage den Hut runter. Ich sage nein. Ich sage lass mich. Ich sage hör auf. Ich sage geh weg. Denn ich kann nicht weg.
Um mich herum sitzen viele andere Menschen. Niemand reagiert. Niemand sieht mich, niemand hört mich, niemand tut etwas. Ist ja auch viel einfacher, aus dem Fenster zu schauen. Ja, na klar, ich hätte jemanden direkt ansprechen und um Hilfe bitten sollen, sicher, es ist ja meine Aufgabe, mich aus der Situation zu befreien. Wir erinnern uns aber: Ich bin 15 oder so. Nicht sonderlich selbstbewusst, nicht vorbereitet, das sind wir nie.
In diesem Moment also setzt Normalität ein. Hier, im Bus. Sie ist einfach da, denn niemand markiert die Situation als außergewöhnlich. Es ist alles ganz normal, man muss nichts sagen. Ich merke mir: Es ist normal, dass das passiert. Es ist normal, dass niemand was sagt. Es ist normal, dass ich allein mit der Situation klarkommen muss, obwohl 20 Menschen um mich herum sind.
Und es war immer wieder normal. In der Disco, in Bahnen und Bussen, in der Schule, in der Uni, auf Partys, auf der Arbeit. Ich bin gestern durch Zufall auf eine Sendung von 2017 gestoßen (Ihre Meinung vom 16.11.2017), da ging es anlässlich der #MeToo-Debatte darum, wo Sexismus anfängt, wo sexuelle Belästigung, wie wir als Gesellschaft damit umgehen, wer wie wo beeinflusst (wird), was Erziehung und Medien damit zu tun haben und so weiter.
Und da waren sie wieder, diese Stimmen, die meinten, frau müsse nur selbstbewusst genug sein, dann passiere das nicht. „Bei mir würde sich das kein Mann trauen“ – ach so. Und natürlich: Nicht alle sind so. Das stimmt. Nicht alle sind so. Gerade deswegen würde ich sie gern hören, die Männer, die diese Übergriffe für völlig an den Haaren herbeigezogen halten. Ich würde sie gern aufstehen sehen, eingreifen, nicht wegsehen. Ich fände es toll, wenn sie zuhören, die Geschichten ernst nehmen und sich einmal, auch nur EINMAL vorstellen, es sei die Schwester, die eigene Freundin/Frau, die Tochter?
Es ist normal, überall. Ich habe über 10 Jahre lang gekellnert und ich weiß nicht genau, wie oft da eine Hand auf meinem Hintern oder sonstwo gelandet ist. Es ist normal. Das habe ich früh gelernt. Und: Niemand hilft. Weil es ja normal ist. Ich bin die, die übertreibt, eigentlich ist es doch normal. Was passiert wohl, wenn ich dann vergewaltigt werde? Ganz sicher werde ich mir tausendmal überlegen, wem ich davon erzähle und wann. Denn ich weiß doch: Es ist normal.
Also die Frage, warum sich Frauen nicht sofort zu solchen Erlebnissen äußern, warum sie nicht laut sind, warum sie schweigen, oft lange, lange Zeit… Das ist nicht, weil es nicht schlimm war oder weil sie sich erst ne spannende Story ausdenken müssen. Gerade dann, wenn es kein unbekannter Mensch war. Da geht es erst recht um Macht.
Wenn dir der Chef zu nahe kommt, vielleicht betrunken (je nach Branche muss das keine Weihnachtsfeier sein). Wenn er dich anmacht, erst mit anzüglichen Sprüchen, dann mit Berührungen, dich vielleicht umarmt, die Hände sind sonstwo… Was machst du da?
Nein, du brüllst nicht los. Du checkst deine Lage: Wer ist da? Kann mir jemand helfen (ach ja, es ist ja normal, also wer wird die Situation richtig beurteilen)? Wie schlimm ist die Situation, bin ich in Gefahr, wenn ich mich wehre? Lasse ich das mit mir machen, um heile hier rauszukommen? Kann ich etwas tun, um mich zu entziehen, ohne dass er sein Gesicht verliert (denn dann könnte es eskalieren)? Was passiert, wenn ich was sage? Vermutlich ein „hab dich nicht so, ist doch nur Spaß“. Also besser schweigen. Im besten Fall wächst Gras drüber.
Es ist normal, es bleibt auch normal, egal wie alt frau wird. Am Wochenende war ich wieder kellnern und da war sie wieder, die normale Situation. Die Hand auf meinem Hintern, dazu ein: „Oh, das fühlt sich aber auch gut an!“ – mitten im Laden. Am Tisch sitzen außer dem Herrn noch 6 andere Personen, 3 weitere am Nachbartisch. Niemand sagt etwas, natürlich nicht.
Ich schaue ihm direkt ins Gesicht und sage: „Ja. Und es ist absolut unangemessen.“ Denn was soll ich sonst tun? Gerade angetrunkene oder betrunkene Menschen werden die Tragweite ihrer Aktion nicht verstehen.
Erstaunlicherweise höre ich ein: „Das stimmt“ von ihm, immerhin. Genuschelt, leise, vielleicht hat er verstanden. Denn nein, es ist nicht lustig. Es ist nicht gesellig. Es ist kein Kompliment, das mich erfreut. Es ist einfach nur widerlich und unangenehm.
Und ich möchte nicht die mitleidigen Blicke, dieses merkwürdige „du Arme!“ in den Gesichtern. Ich möchte dass der Andi dem Heini erklärt, wie scheiße sein Verhalten ist. Ich kann es nicht, es bringt nichts. Aber die anderen, die sollten es machen. Es thematisieren. Den Normalzustand beenden. Es wird Zeit.
Denn nein, es ist nicht nur eine Frage, wie wir unsere Söhne erziehen. Die können nicht das richten, was bis jetzt nicht gelernt wurde. Es sind zu viele, es passiert zu oft, es ist zu normal. Bis mein Sohn erwachsen ist und seine Stimme erhebt, dauert es noch ein paar Jahre. Bis dahin müssen es die anderen machen. Die, die sagen: Bei uns gibt es sowas nicht!
Wäre mal ein Anfang.
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11 Antworten
ich bin groß und stark und entspreche nicht mehr dem beuteschema, aber ich hätte mich eingemischt. ich mische mich immer ein, auch für männer, die bedroht sind. ich war noch nie in gefahr, und bitte immer andere frauen, mir im notfall zu helfen, evtl. mit anrufen. es ist ein unerträglicher zustand, in den diese typen einen bringen, ich kann es auch sehr laut sagen. erzähle weiter diese geschichten, um mich gibt es keinen mann, der sich so verhält, mann und sohn auch nicht, es ist so respektlos und beleidigend.
Fühlt sich an, als wäre man selbstverständliches Gemeineigentum, so eklig
[…] Anna Koschinski über das, was ganz normal ist. […]
Wenn man solche Erlebnisse zu Texten schreibt und öffentlich macht, steht man hinterher anders da. Ich habe gemerkt, es macht was mit einem. Man macht sich verletzlich und gleichzeitig, indem man darüber schreibt, verarbeitet man es. So macht man sich und allen klar, dass man jetzt die Worte dafür hat und an Stärke gewonnen hat.
Gerade einen Podcast gehört, der hier passt:
https://www.hoerspielundfeature.de/hoerspiel-feministische-selbstverteidigung-save-me-not-100.html
Danke! Höre ich auf jeden Fall rein. Das Thema ist mir grad wieder mal so ins Leben geprallt, vielleicht hat das einen Grund
Podcast ist übrigens falsch, Hörspiel wollte ich schreiben
Ich bin 12. Der Sportlehrer, der zu mir ins Zimmer kommt.
Ich bin 14. Der Kumpel, der die Zimmertür abschließt.
Ich bin 15. Der Mann im Zug.
Ich bin 16. Der Gast im Café.
Ich bin 18. Die Typen in der Disco.
Ich bin 20. Der Kunde in der Buchhandlung.
…
Ja, ich habe auch eine Auswahl getroffen. Und die ganz unappetitlichen Situationen habe ich weggelassen. Ich hoffe ja immer, dass die sich im Nachhinein wenigstens schämen, aber mittlerweile glaube ich: Nein, denn ist ja normal und „hab dich nicht so“
Wie recht Du hast mit jedem Wort!
Danke. Es ist einfach nicht besser geworden. Wir reden und reden und reden und nichts ändert sich. Weil zu viele glauben, es sei normal. Gestern dachte ich mir: Da muss man doch was machen, diese Ignoranz ist unerträglich. Vielleicht helfen Geschichten. Vielleicht können sie Mitgefühl wecken, Verständnis fördern, Aha-Erlebnisse generieren. Ich würde es mir wünschen.