Ich bin ein Stadtkind. Bei mir zuhause muss ich ein Stückchen fahren, um in die Weite schauen zu können. Oder ich muss auf den Turm der Sparrenburg klettern, dann kann ich auch ein bisschen über Bielefeld hinwegsehen. Aber das ist alles nichts im Vergleich dazu, wenn ich in der Schweiz in den Bergen bin. Hier gibt es ja richtige Berge, nicht so Hügel wie unser Sparrenberg einer ist – der mit der Sparrenburg drauf, ist klar, ne? Und das Schönste an diesen Bergen ist die Sicht. Ist ein bisschen wie aufs Meer schauen, nur besser: Weil da so viel Welt ist, die man überblicken kann, die so klein wird in der Ferne und gerade dadurch an Struktur gewinnt. Finde ich jedenfalls.
Da saß ich heute wieder ein halbes Stündchen einfach nur da und schaute auf das Rheintal. Bisschen diesig hingen da unten ein paar Nebelschwaden, aber ich konnte einfach drübergucken, bis zum nächsten Bergkamm. Nach rechts und nach links hatte ich auch gute Sicht, nur da über dem Rhein waberte der Nebel vor sich hin, ein bisschen wattig, als hätte er sich gesagt: hier ist es schön, ich bleib einfach da.
Wenn ganz viel passiert im Leben, dann ist ein Stopp manchmal heilsam. Und so einen Stopp da einzulegen, wo die Zeit gefühlt ein bisschen langsamer vergeht als anderswo, scheint mir genau richtig. Hier passiert einfach nichts, wenn man nicht runter ins Tal geht. Es gibt uns und es gibt ein paar Ziegen und Kühe und Schafe, weiter oben am Berg auch Esel und Yaks. Und klar, da sind auch Menschen, ab und zu seh ich welche, aber die sind auch nicht kopflos und gedrängt unterwegs, sondern nur geschäftig von einem Ort zum anderen.
Es klingt, als sei immer Nacht
Es ist ruhig hier, nur die Ziegenglocken höre ich (wenn es Kuhglocken gibt, müssen das wohl Ziegenglocken sein) und das Plätschern von Wasser – alles, was ganz oben auf dem Berg ankommt, fließt irgendwo wieder runter, das hört man. Auch Junior hat das schon bemerkt, er sagt, es klingt, als sei immer Nacht. Bei uns in der Stadt ist es selbst nachts nie wirklich still, aber das kommt dieser Stille vielleicht am nächsten.
Ich schaue also weit. Nicht, dass ich jetzt den Weitblick oder Durchblick hätte, aber ich schaue und versuche nicht, etwas zu sehen oder zu entdecken. Nur schauen. Mir ist völlig klar, dass die Menschen hier auch arbeiten und auch mal hektisch durch die Gegend laufen, gestresst sind und was weiß ich noch alles. Bloß sieht das von hier oben nicht so aus.
Hier sind auch keine anderen Touristen, keine Wanderstöcke und Rucksäcke. Hier sind nur wir. Als wir zur Burgruine hochkraxeln, treffen wir auf einen anderen Menschen (na gut, der hatte auch Wanderstöcke). Und zwei Bauern, an deren Höfen wir vorbeigelaufen sind. Sonst nichts. Ich mag das, obwohl ich froh bin über eine Mobilfunkverbindung – man weiß ja nie.
Runterfahren
Es scheint mir jedenfalls so, als würde ich runterfahren, mit jedem Tag, den ich hier aus dem Fenster schaue und bis weit über das Tal sehen kann. Ich bin ein echtes Stadtkind, daher kann ich mit vielen Tieren und Pflanzen hier (wie auch zuhause) nichts anfangen. Ich erkenne keine Vogelarten oder Pilzsorten, ich schaue einfach nur, immer wieder den Berg rauf und dann wieder runter, Richtung Tal. Auf der einen Seite die Höhe, auf der anderen die Weite – ich mag das wirklich sehr.
Und je mehr ich schaue, umso mehr vergesse ich meinen Alltag – das schaffe ich zuhause nicht, auch wenn ich noch so sehr Ferien habe. Vier Tage lang habe ich meinen Laptop nicht aufgeklappt, es war nicht wichtig, die Welt dreht sich auch ohne mich weiter. Ich seh sie ja auch nur ganz klein, da unten irgendwo ganz weit weg. Und ich weiß, dass ich nicht weit laufen muss, um in anderer Leute Alltag anzukommen, aber damit kann ich gut leben. Ich bleib einfach noch ein bisschen hier oben. So gut wie ohne Denken. Schauen ist wichtiger. Und wer weiß, vielleicht fühl ich dann ja auch meine Richtung wieder.
Denn weißt du noch, wie das in der Geschichte vom kleinen Tiger und kleinen Bär war? Die Krähe zeigte ihnen, wo Panama ist: Sie sagte, sie müssten nur ganz nach oben auf den Baum, von dort könnten sie es sehen. Und sie erkannten ihr Ziel, das „Land ihrer Träume“, und wussten, wo sie hingehörten. Darauf vertrau ich jetzt auch. Einmal weit blicken und klar sehen. Auch ohne selbstgebauten Wegweiser.
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