Sechs Kilometer. Die bin ich am Samstag gelaufen. Ge-geh-joggt bin ich. So langsam, dass ich mich währenddessen schon gefragt habe, ob man das als laufen zählen kann. Aber selbst bei dem bisschen geh-joggen keuche ich wie ein Mensch, der seit Jahrzehnten Kette raucht. Das finden viele Menschen um mich herum witzig. „Wow, du bist ja völlig fertig!“, sagt mein Nachbar, der gerade das Haus verlässt, als ich noch vor dem Haus nach Luft schnappe. Er meint wohl, ich bin einfach die unfitteste Person auf der Welt. Peinlich, dass ich die paar Kilometer leichtes Laufen nicht easy hinbekomme.
Seit 2023 kann ich keine 500 Meter mehr laufen, ohne völlig aus der Puste zu sein. Und das wird nicht besser, auch mit zwei bis drei Runden pro Woche und kleinen Kraft-Einheiten zuhause. Ich habe keine Luft mehr. Und ja, ich schreibe hier „seit 2023“, denn vorher war das anders. Ja, der erste Lauf nach einer Pause ist immer hart, aber nach mehreren Monaten regelmäßig Bewegung zeichnet sich doch normalerweise ein Fortschritt ab. Bei mir nicht. Im vergangenen Jahr nicht, als ich es versucht habe, und auch jetzt nicht. Ich habe weiterhin keine Luft. Und das ganz ohne Rauchen.
Jetzt kommen sicher wieder die Leute, die meinen, ich mache einfach was falsch, das kenne ich schon. Also: Nein, das liegt nicht daran, dass ich falsch atme oder zu schnell laufe, es ist ja auch nicht so, als wäre das mein erster Versuch. Es wird einfach nicht besser. Und ich kann dir sagen: Dass mich die Menschen im Park belustigt anschauen, weil ich mich so quäle, trägt nicht gerade dazu bei, dass es mehr Spaß macht.
Das muss man sich mal vorstellen: Da sitzen zwei mittelalte, übergewichtige Männer auf einer Parkbank, rauchen eine Kippe nach der anderen und machen sich über mich lustig, weil ich trotz all des Keuchens nicht aufgeben mag.
Mein Scheiß, dein Scheiß
Ich hab hier schon mal über Schubladen geschrieben und ja klar, auch ich muss meine Gedanken manchmal zurückpfeifen, wenn sie zu schnell bei vermutlich falschen Urteilen landen. Aber Leute, ganz ehrlich: Was zur Hölle ist so schwierig daran, noch mal drüber nachzudenken, was ihr da seht (oder glaubt zu sehen)?
Erst letztens habe ich mit der Mutter eines Kumpels von Junior diskutiert über eine Szene, die wir flüchtig aus dem Auto heraus gesehen haben. Ein pummeliger Junge, vielleicht 4 oder 5 Jahre alt, steht mit einer Frau, vermutlich seiner Mutter, am Rand von einem Supermarkt-Parkplatz und hält eine Tüte Chips in der Hand. Die Tüte ist offen und der Junge isst daraus.
Und was sagt die Mutter des Kumpels von Junior? Na klar: „Nehmt doch bitte dem armen Kind die Chipstüte weg! Man sieht doch, wie das endet…“
Was wissen wir denn über dieses Kind? Gar nichts. Wir wissen nicht, was es zuhause zu essen bekommt, ob es eine Krankheit hat, ob es sich vielleicht nicht gut bewegen kann, ob es sportlich oder unsportlich ist (pummelig ist nicht gleich unsportlich, Leute!) oder oder oder. Aber klar, wir nehmen an, dass die Mutter dieses Kind ausschließlich mit Chips füttert, dass es fürchterlich darunter leidet und dass es an einer Herzerkrankung oder Diabetes sterben wird (und dann liegt es uns allen auf der Tasche, jawohl!).
Wir brauchen mehr Aufmerksamkeit und Interesse statt vorschneller Urteile. Die bringen niemanden weiter und verhärten immer die Fronten. Nicht gut. Wir sollten mehr denken und weniger urteilen. Und uns um unseren eigenen Scheiß kümmern. Das ist doch für die meisten völlig ausreichend.
Glaub nicht, was du denkst
Und ich? Bin ich die unfitteste Person der Welt? Sicher, ich habe 2023 und auch 2024 nicht so viel gemacht wie in den Jahren davor. Aber ich bin doch dabei – obwohl ich keine Luft bekomme. Der Kardiologe sagt alles gut, der Hausarzt sagt Stress – na klar, was auch sonst? Und mir wird beim Arzt nicht gerade der rote Teppich ausgerollt, wenn ich erzähle, dass ich beim Laufen keine Luft mehr bekomme und dass das früher anders war.
Da fragt man: Können Sie Ihrer Arbeit nachgehen? Ja? Na dann ist es ja nicht so schlimm, ist sicher Stress, treten Sie halt ein bisschen kürzer, passt schon. Also bevor ich anmerken kann, dass meine Lunge vielleicht kaputt ist, bin ich schon wieder raus aus der Praxis. Passt schon.
Jetzt laufe und keuche ich weiter. Weil nichts tun auch keine Lösung ist, außer dass ich mich dann zu den Menschen im Park gesellen kann, um mich über alle lustig zu machen, die etwas tun.
Ach ja, 2023 hatte ich Corona. Akut war es vielleicht 10 Tage schlimm mit Husten und Co., aber erschöpft war ich mehrere Monate lang. Erschöpft, aber arbeitsfähig. Da macht man nichts. Wir warten ja lieber ab, bis Menschen endgültig nicht mehr können, dann ist die Behandlung auch x-mal so teuer. Na ja, anderes Thema, lassen wir das.
Der Rest ist Geschichte
Schubladen sind super, wenn du schnell eine Einschätzung machen musst, weil es dich wirklich betrifft. Aber alle anderen? Wenn dich der Junge am Rand des Parkplatzes wirklich interessieren sollte, dann denk drüber nach, welche Geschichte er vielleicht erlebt hat. Und wenn dich interessiert, warum die Frau im Park so keucht, dann versuch doch mal ne andere Erklärung dafür zu finden, als dass sie gerade die ersten drei Meter ihres Lebens in Joggingschuhen gemacht hat.
Mach einen Schritt zurück: Du weißt gar nichts. Nichts über die Person, nichts über ihr Leben, nichts über ihre Geschichte und ihren Alltag. Die vorschnellen Urteile zu hinterfragen ist übrigens wunderbar entspannend, denn in fast allen Fällen stellt man fest: Ach ja, kann ich nicht wissen, geht mich ja gar nichts an. Da brauche ich gar keine Energie verschwenden. Schön, oder?
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4 Antworten
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Die Gedanken zurückpfeifen. Herrlicher Satz. Herrliches Bild. Und klingen tut es vielleicht so: pfiiiiuiiiff.
Nur ein kleines bisschen Humor. Tut gut und hilft.
Alles Liebe von deiner Edith
Ein toller Beitrag, der einen anregt über sich selbst nachzudenken.
Nicht immer ist man ja selber vor diesem Schubladendenken gefeit. Ich natürlich auch nicht.
Aber ich arbeite schon lange diesbezüglich an mir selbst und finde, dass ich schon relativ weit gekommen bin.
Man fühlt sich auch einfach wohler und es erweitert oftmals seinen eigenen Horizont über Andere nicht zu lästern sondern ihnen eine faire Chance zu geben.
Ja genau, wir sind alle nicht davor gefeit – ich ja auch nicht. Und doch hatte ich das Bedürfnis, darüber zu schreiben. Denn man sieht uns unsere Geschichten, unsere Krankheiten, unsere Herausforderungen und Kämpfe nicht an – und auch nicht unseren Fitness-Grad ^^
Sie wissen ja, Herr Robbe, dass ich solche Gedanken dann immer gern in Text verwandle, denn wenn es mich ins Denken und Reflektieren bringt, dann ist das bei anderen vielleicht auch so. Achtsamkeit hat eben nicht nur etwas mit uns selbst, sondern auch mit anderen zu tun 🙂