Vor ein paar Tagen habe ich „Die Anomalie“ von Hervé Le Tellier zu Ende gelesen und seitdem trage ich ein paar Fragen mit mir herum. Denn allein der Gedanke, es gäbe mich ein zweites Mal, eine exakte Kopie von mir, mit allen Erlebnissen, all den Ansichten und Wünschen und Träumen und allem Drumherum, macht mich nervös. Ich glaube, das ist das passende Wort dafür, ein besseres fällt mir derzeit nicht ein.
Damit du auch weißt, worüber ich schreibe: In der Geschichte landet ein Flugzeug doppelt, einmal in März und einmal im Juni. Es ist das gleiche Flugzeug, mit exakt den gleichen Personen an Bord, dem gleichen Personal, den gleichen Dingen. Die „Originale“ haben also ab der Landung im März ihr Leben normal weitergelebt und im Juni landen sie dann nochmal, als Kopie, die ja aber nicht weiß, dass sie eine Kopie ist (wer weiß das schon, wer Original und wer Kopie ist, wenn alles gleich ist?). Das einzige, was sie unterscheidet, sind die Wochen zwischen den Landungen.
Dass da nun also eine komplette Flugzeugladung Menschen „zu viel“ ist, bringt natürlich Probleme mit sich. Erstmal für die Regierung, dann aber auch für die betroffenen Personen. Denn wie geht man mit einer solchen Situation um? Das eigene Leben teilen? Oder eine Entscheidung treffen: Der oder die eine darf das Leben weiterleben, der oder die andere fängt irgendwo anonym ein ganz neues an? Was ist mit Partnerpersonen, Kindern, Familienmitgliedern, die nicht mitkopiert wurden, weil sie nicht an Bord des Flugzeugs waren?
Und dann: Wie fühlt es sich wohl an, sich selbst zu begegnen, mit dem Wissen, dass diese Person alles, also ALLES, über mich weiß? Die kleinen Lügen, die großen, die Erlebnisse, die man lieber verschweigt, die verdrängten auch – zum Glück sind die ja bei der anderen Person dann auch verdrängt, oder?
Gleichzeitig habe ich mich gefragt: Wäre das denn spannend, mit einer zweiten Anna zu sprechen? Man könnte sich alles erzählen, denn das Wissen ist ja schon da. Aber doch auch nichts Neues, denn sie würde ja denken wie ich. Oder?
Und was passiert, wenn man sich dann trennt, ab einem Zeitpunkt unterschiedliche Erfahrungen auf die gemeinsamen draufpackt? Wenn sich diese gleichen Personen unterschiedlich entwickeln, obwohl sie doch „eins“ sind? Mich haben diese Gedanken sehr fasziniert, muss ich sagen.
In dem Buch werden dann auch noch andere Fragen diskutiert, ethische, moralische, religiöse. Klar, dass durch diese Doppelgänger nicht nur logistische Probleme auftreten. Aber für mich waren es diese sehr naheliegenden, praktischen Probleme. Würde ich mich mögen? Würde ich meine Anwesenheit schätzen? Wäre ich ein Gewinn in meinem Leben? Was macht das, wenn man nicht mehr so individuell ist wie man immer gedacht hat?
Ich glaub ja, eine Anna reicht. Für mein Umfeld, aber auch für mich. Herausforderungen gibt es zwar genug für zwei, aber möglicherweise würde ich mir auch selbst im Weg stehen, mehr als ich es jetzt schon tue, ohne eine Kopie von mir.
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