Von der Seite fliegt ein Gedanke auf dich zu. Du nimmst ihn auf, er packt dich, du denkst ihn weiter, kaust darauf herum, unter der Dusche, abends vor dem Einschlafen, er lässt dich nicht los. Du recherchierst, liest dich ein, erkennst wichtige Verbindungen zu anderen Gedanken. Dann wird er größer, wird zu einem Thema, einem Projekt, etwas, das du nicht mit einer Suche im Internet abhaken kannst. Du recherchierst weiter, findest spannende Bücher zum Thema, manche bestellst du in der Bibliothek, andere springen dich an, du willst sie lesen und du kaufst sie (gebraucht). Und dann: Landen sie auf einem deiner Bücherstapel.
Ich gebe es offen zu: Ich habe nicht nur einen Stapel, sondern viele. In fast jedem Raum meiner Wohnung ist ein solcher Stapel mit ungelesenen Büchern. Bücher, die ich irgendwann mal entdeckt habe, die mir empfohlen wurden, die ich einfach unbedingt lesen wollte.
Im Japanischen gibt es einen Begriff für dieses Phänomen: Tsundoku. Da ist diese Liebe zu Büchern, zum Stöbern, zur Literatur in allen Formen und Genres. Sie verführt dazu, Bücher zu kaufen, sie sich ins Regal zu stellen, davon zu träumen, diese wunderbaren Werke zu lesen. Aber oft fehlt die Zeit, also die Priorität. Dann ist eben doch schnell die Serie konsumiert, anstatt sich Zeit zu nehmen für all die wunderbaren Werke im Stapel ungelesener Bücher (SUB).
Manche Menschen bekommen dann irgendwann ein schlechtes Gewissen, weil sie ihr eigenes Vorhaben nicht umsetzen, weil sie Bücher anhäufen, ohne sie wirklich zu lesen. Viele setzen sich so sehr unter Druck, dass sie gar nicht mehr lesen. Dann wird lesen zur lästigen Pflicht – klar, dass da Widerstand entsteht. Von der Ressourcenverschwendung mal abgesehen, denn dann hätten wir die ganzen Bücher vielleicht besser gar nicht erst gekauft, oder?
Ist Social Media Schuld?
Ich will nicht wissen, wie oft ich schon Posts auf Social Media gespeichert habe oder zumindest das dort vorgestellte und empfohlene Buch. Meine Leseliste ist sehr, sehr lang. Schon zu StudiVZ-Zeiten gab es diese Gruppe „Bücher, die ich unbedingt lesen möchte“. Damals hatte ich noch diesen natürlich Stopper, weil im Studium nicht immer Geld übrig ist für Bücher, geschweige denn ganze Buchreihen – und das ist ja die Gefahr, wenn man eine tolle Autorin oder einen tollen Autor gefunden hat, dass man dann alle anderen Bücher auch lesen will.
Da zieht sicher auch oft FOMO, die Angst, etwas zu verpassen. Denn wenn alle das gelesen haben, muss ich doch mitreden können! Bei mir funktioniert das gut, wenn es nicht der ganz große Hype ist. Diese ganz großen Hypes nämlich lese ich aus Prinzip eben nicht. Das ist auch der Grund, warum ich Harry Potter bis heute weder gelesen, noch die Filme gesehen habe. Jetzt habe ich allerdings eine neue Versuchung hier, die mich allabendlich „anschaut“ – also wer weiß, vielleicht fange ich es noch an.
„Schlimm“ für meinen Stapel ungelesener Bücher sind auch Bücher-Blogs und Bücher-Podcasts. Und auch der #FachbücherFreitag, ein kleiner Lese-Zirkel, den die wunderbare Ruth Konter-Mannweiler alle zwei Wochen virtuell veranstaltet. Da stellen die Teilnehmerinnen auch immer vor, was sie gerade lesen und welchen Eindruck sie haben, ob sie es empfehlen würden. Und ich kann sagen: Da ist immer etwas interessantes dabei. Leider. Oder eben nicht leider. Denn hey, Bücher-Liebe ist vielleicht doch nicht so schlimm?
Die Idee der Antibibliothek
Das Konzept der „Antibibliothek“ hat Nassim Nicholas Taleb in seinem Buch „Der schwarze Schwan“ beschrieben. Sein Beispiel ist die Bibliothek von Umberto Eco, in der angeblich 30.000 Bücher stehen. So schön, so gut – Eco als gebildetem und belesenen Mann traut man es sicher zu, dass er viel liest. Der Witz an der Sache ist aber der: Selbst wenn er jeden Tag ein Buch lesen würde, könnte er im laufe seines Lebens maximal 25.200 Bücher lesen, das rechnete er wohl selbst seinen Besuchern gern vor.
Diese ungelesenen Bücher in der Bibliothek nennt Taleb die Antibibliothek. Klingt so negativ, ist aber positiv gemeint: Er sagt, auch diese ungelesenen Bücher seien wichtig, denn sie erinnerten ihn daran, wie wenig er eigentlich weiß. Sagte ja schon Sokrates, dass es gut sei, das zu wissen.
Wenn ich so drüber nachdenke, finde ich das auch sehr logisch. Die Liebe zu Büchern kann uns verleiten, mehr Bücher zu kaufen als wir eigentlich lesen können. Aber zu wissen, dass wir jederzeit reinschauen, versinken, vertiefen können, ist doch wundervoll! Oder Bücher, die wir angefangen, aber nicht zu Ende gelesen haben. Die haben doch trotzdem einen Platz in unserem Regal verdient (es sei denn, sie sind wirklich schlecht, dann vielleicht besser nicht).
Also: Pflegen wir doch lieber unsere Antibibliothek und erfreuen uns daran, was da noch alles im Regal auf uns wartet – Vorfreude ist wirklich eine schöne Freude! Und vor allem: Lassen wir das schlechte Gewissen weg. Wenn wir zu viele Teller, Tassen oder Gläser im Schrank haben, als wir brauchen, haben wir doch auch keins, oder?
Ich mag jedenfalls den Gedanken, dass diese Bücher, die in meinen Stapeln liegen, einen ganz besonderen Teil meiner Bibliothek ausmachen. Den nämlich, der noch auf mich wartet. Und das ist okay so. Für Klassiker wie auch für Fachbücher. Meine Antibibliothek.
Du kannst mir übrigens einen Kaffee-Regen schenken, wenn dir danach ist. Weil Geben und Nehmen zusammengehören. Meine Kaffeekasse findest du hier.
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